Donnerstag, 9. April 2015

Tod und Leben großer amerikanischer Städte (Jane Jacobs)

Ich habe ein wunderbares und erschreckendes Buch gelesen: Little Brother von Cory Doctorow. Es ist eine Erzählung, die in SF spielt. Terroristen sprengen die Oakland Bay Bridge und Kalifornien wird danach zum Polizei- und Überwachungsstaat. Ein 17jähriger Gamer und Hacker stellt sich dem entgegen. Das Buch hat 2 sehr interessante Nachworte eines Hackers und eines Sicherheitsexperten, die klar machen, dass wir uns vor Terror nicht wirklich schützen können. Das aber der Verlust der Privatsphäre ein Sieg des Terrorismus ist.

Der Autor beschreibt aber auch die Stadt SF und ihre Idealisierung. Ich möchte einen Absatz aus dem Buch zitieren, in dem es um das Civic Center, das Stadtzentrum geht. Die erwähnte Jane Jacobs war Architektin und hat ein wegweisendes Buch zur Stadtkultur geschrieben. Und sie hat dafür gesorgt, dass in vielen (auch deutschen) Städten ein Umdenkungsprozess eingesetzt hat.
Zuckerbäckerbilder gibts ganz viele bei Google
Seite 392:
Ich habe das Civic Center schon immer gehasst. Es besteht aus einer Ansammlung von riesigen Zuckerbäckerbauten: Gerichtskomplexen, Museen und öffentlichen Gebäuden wie dem Rathaus. Die Bürgersteige sind breit, die Häuser sind weiß. Für die Reiseführer über SF wird das Ganze immer so fotografiert, dass es aussieht wie das Epcot in Orlando, dem zweitgrößten Vergnügungspark von Disney World – total futuristisch und streng. 

Aber unten ist alles ganz schmuddelig und eklig. Auf allen Bänken pennen die Obdachlosen. Abends um sechs wirkt das Gelände wie ausgestorben, bis auf die Betrunkenen und Junkies, denn wenn an einem Ort nur eine Art von Gebäude steht, gibt es keinen wirklichen Grund, warum sich jemand nach Sonnenuntergang dort aufhalten soll. Das Ganze erinnert mehr an eine Promenade als an ein Wohnviertel, und die einzigen Geschäfte, die es dort gibt, sind Spirituosenläden, das heißt Läden für die Angehörigen von Ganoven, die vor Gericht stehen und für Penner, die auf dem Platz ihr Nachtquartier aufschlagen.

So richtig hatte ich das erst begriffen, als ich ein Interview mit einer erstaunlich klugen alten Stadtplanerin las, einer gewissen Jane Jacobs, die für mich die Erste war, die den Nagel auf den Kopf traf mit ihrer Ansicht, dass man Städte nicht mit Autobahnen zerschneiden, arme Menschen nicht in Wohnghettos stecken und auch keine festen Zonen einrichten dürfe, in denen per Gesetz geregelt ist, wer was wo treibt.

Die Jacobs erklärte, richtige Städte seien organisch gewachsene Gebilde, die von großer Vielfalt geprägt sind – wo sich Arme und Reiche, Schwarze und Weiße, Angloamerikaner und Mexikaner, Läden und Wohnraum, ja sogar Industrie mischten. In einer solchen Umgebung bewegen sich rund um die Uhr alle möglichen Menschen, sodass sich Geschäfte ansiedeln, die sämtlichen nur denkbaren Bedürfnissen nachkommen, und auf den Straßen ist immer etwas los, weshalb sich ein solcher Ort ganz von selbst überwacht.

Das kennt man ja. Du läufst durch ein älteres Stadtviertel und stellst fest, dass es da die coolsten Läden, Typen im Anzug und Leute in Schlabberlook, Sternerestaurants und geile Cafés gibt, vielleicht sogar ein kleines Kino und Häuserfassaden in echt ausgefallenen Farben. Sicher kann es dazwischen auch einen Starbucks geben, aber genauso einen verlockenden Obst- und Gemüsemarkt und eine Blumenfrau, die aussieht, als ob sie schon seit dreihundert Jahren ganz bedächtig an den Pflanzen in ihrem Schaufenster herumschneidet. Es ist das Gegenteil von geplantem Raum wie einem Einkaufszentrum.

Weiter davon entfernt als das Civic Center kann man überhaupt nicht sein. Ich habe auch ein Interview mit der Jacobs gelesen, in dem sie von dem schönen alten Viertel spricht, das für das Center abgerissen wurde. Es war genau so gewesen, ein Ort, der einfach da war, ohne Genehmigung oder ersichtlichen Plan.

Jacobs schrieb, sie habe es prophezeit, dass das Civic Center in wenigen Jahren zu einem der schlimmsten Viertel verkommen würde – zu einer nächtlichen Geisterstadt, einem Ort, an dem nur ein paar Schnapsläden und versiffte Hotels noch ihr Dasein fristen könnten. Sie schien in dem Interview nicht besonders glücklich, dass ihr die Realität recht gab, vielmehr klang es, als ob sie einem toten Freund nachweine, als sie erzählte, was aus dem Civic Center geworden war.